Medialer Temporallappen:Wie das Gedächtnis die Wahrnehmung schärft

Computermodell liefert neue Erkenntnisse über die Funktion dieses Hirnareals

Eine Gruppe von Neuroinformatikern der Ruhr-Universität Bochum (RUB) hat mit Hilfe eines Computermodells gezeigt, dass der mediale Temporallappen indirekt an Wahrnehmungsprozessen beteiligt sein könnte. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie in dem Fachmagazin Hippocampus, online seit dem 30. Dezember 2019.

Hinweise auf Wahrnehmungsprozesse im MTL

Im medialen Temporallappen (MTL) liegen wichtige Hirnstrukturen wie der Hippocampus sowie weitere, anatomisch verwandte Strukturen, die gemeinsam dafür sorgen, dass wir uns bewusst an Fakten und Erlebnisse erinnern können. Es gibt jedoch immer wieder Hinweise aus der Forschung, dass der MTL auch an Wahrnehmungsprozessen beteiligt ist. So zeigen Studien mit Patienten, mit einer Läsion im MTL, dass bei einer solchen Verletzung nicht nur das Gedächtnis beeinträchtigt ist, sondern auch die Fähigkeit, verschiedene Objekte voneinander zu unterscheiden.

Einige Neurowissenschaftler sehen diese Ergebnisse als Hinweis darauf, dass der MTL auch an der Verarbeitung von visuellen Informationen beteiligt sein könnte. Andere Forscher ziehen aus den Ergebnissen lediglich den Schluss, dass die gestellten Aufgaben auch das Gedächtnis fordern und die Patienten mit dem eingeschränkten Erinnerungsvermögen deshalb weniger gut abschnitten.

Computeralgorithmus mit Gedächtnis

Mit einem Computermodell wollen Prof. Dr. Sen Cheng, Prof. Dr. Laurenz Wiskott und Richard Görler von der Ruhr-Universität Bochum nun neue Erkenntnisse über die Funktion des MTL zu der Debatte beisteuern. Ihre Theorie: Sensorische Repräsentationen – und damit die Fähigkeit, Sinneseindrücke zu interpretieren – werden zwar zunächst durch die Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen gelernt, jedoch könnten sie im weiteren Verlauf verbessert werden, indem das Gehirn Erfahrungen aus dem Gedächtnis erneut abspielt.

Um diese Theorie zu überprüfen, ließen die Forscher einen Computeralgorithmus – die Slow Feature Analysis – eine visuelle Unterscheidungsaufgabe absolvieren. Zunächst musste der Algorithmus lernen, zwei verschiedene Abbildungen zu erkennen – er erstelle eine visuelle Repräsentation der beiden Bilder. Eines zeigte den Buchstaben T und eines den Buchstaben L. Bei der Erstellung der visuellen Repräsentationen stand dem Algorithmus in einem Versuchsteil eine Art Gedächtnis zu Verfügung und im zweiten Teil jedoch nicht.

Nun mussten sich beide Algorithmen der visuellen Unterscheidungsaufgabe stellen. Darin sollten sie erkennen, ob verschiedene Abbildungen eher dem Buchstaben T oder L ähnelten. Präsentiert wurden die Buchstaben auf einem rauschenden Hintergrund. Zudem überlagerten sie sich gegenseitig. „Der Algorithmus arbeitet besser, je weniger Beachtung er dem Rauschen im Hintergrund schenkt“, erklärt Richard Görler, Erstautor der Studie.

Die Forscher stellten fest, dass der Algorithmus, der seine visuelle Repräsentation der Buchstaben mit Unterstützung eines Gedächtnisses bilden konnte, besser in der Unterscheidungsaufgabe abschnitt, als der Algorithmus, der ohne Erinnerungen trainiert hatte. Für die RUB-Forscher bedeutet dieses Ergebnis in der Übertragung, dass der mediale Temporallappen zwar keine direkte Rolle in der Verarbeitung von Sinnesinformationen hat, jedoch durch seine Funktion als Gedächtnisstütze dazu beiträgt, dass Sinneswahrnehmungen akkurater interpretiert werden können.