Neurowissenschaften:Wenn wir Dinge fühlen, die gar nicht da sind

Die Entdeckung der „Phantom-Touch-Illusion“ gewährt neue Einblicke in die menschliche Wahrnehmung und eröffnet innovative Perspektiven für die Interaktion mit Virtual-Reality-Technologie.

Virtual Reality (VR) ist nicht nur eine Technologie für Spiele und Unterhaltung, sondern besitzt auch Potenzial in Forschung und Medizin. Forschende der Ruhr-Universität Bochum haben mit Hilfe von VR nun neue Einblicke in die menschliche Wahrnehmung gewonnen. Sie nutzten Virtual-Reality-Szenarien, bei denen Versuchspersonen ihren eigenen Körper mit einem virtuellen Objekt berührten. Zur Überraschung der Forschenden führte das zu einem Kribbelgefühl an der Stelle, an der der Avatar-Körper berührt wurde. Dieser Effekt trat auf, obwohl kein physischer Kontakt zwischen virtuellem Objekt und Körper stattfand. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Dr. Artur Pilacinski  und Prof. Dr. Christian Klaes aus der Abteilung Neurochirurgie beschreiben dieses Phänomen als „Phantom-Touch-Illusion“ (PTI). Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie im September 2023 in der Zeitschrift „Scientific Reports“ der Nature-Verlagsgruppe.

 „Menschen in der Virtuellen Realität haben manchmal das Gefühl, Dinge zu berühren, obwohl sie tatsächlich nur auf virtuelle Objekte stoßen“, erläutert Erstautor Artur Pilacinski vom Knappschaftskrankenhaus Bochum Langendreer, Klinikum der Ruhr-Universität, den Ursprung der Forschungsfrage. „Wir konnten zeigen, dass die Phantom-Touch-Illusion von den meisten Versuchspersonen als Kribbeln oder prickelndes, elektrisierendes Gefühl beschrieben wird, oder auch als ob Wind durch ihre Hand wehen würde.“

Körpergefühl entsteht aus komplexer Kombination verschiedener Sinneswahrnehmungen

Die Forschenden aus dem Bereich der Neurowissenschaften wollten verstehen, was hinter diesem Phänomen steckt, und herausfinden, welche Prozesse in Gehirn und Körper dabei eine Rolle spielen. Sie beobachteten, dass die PTI ebenfalls auftrat, wenn die Versuchspersonen Teile ihres Körpers berührten, die in der Virtuellen Realität nicht sichtbar waren. Zweitautorin Marita Metzler: „Dies deutet darauf hin, dass die menschliche Wahrnehmung und das Körpergefühl nicht nur auf visuellen Aspekten basiert, sondern auf einer komplexen Kombination aus vielen Sinneswahrnehmungen und der internen Vorstellung des eigenen Körpers.“

An dieser Studie nahmen 36 Proband:innen teil, die VR-Brillen trugen. Zuerst gewöhnten sie sich an die VR-Umgebung, indem sie sich darin bewegten und virtuelle Objekte berührten. Im Anschluss bekamen sie die Aufgabe, ihre Hand in der virtuellen Umgebung mit einem virtuellen Stab zu berühren.

Vergleich zwischen virtuellen und suggerierten Berührungsempfindungen

Die Teilnehmer:innen wurden gefragt, ob sie etwas spürten. Falls nicht, durften sie die Berührung fortsetzen, und die Frage wurde später erneut gestellt. Wenn sie Empfindungen verspürten, sollten sie diese beschreiben und ihre Intensität an verschiedenen Handstellen bewerten. Dieser Prozess wurde für beide Hände wiederholt.

In einem Kontrollexperiment wurde untersucht, ob ähnliche Empfindungen auch ohne visuellen Kontakt mit virtuellen Objekten, allein aufgrund der Anforderungen der Versuchssituation wahrgenommen werden können. Dabei wurde anstelle von virtuellen Objekten ein kleiner Laserpointer verwendet, um die Hand zu berühren. Das Ergebnis: Bei diesem Kontrollexperiment traten keine Empfindungen auf, was darauf hindeutet, dass die PTI nur bei virtuellen Berührungen auftritt.

„Die Entdeckung der PTI eröffnet neue Möglichkeiten für die weitergehende Erforschung der menschlichen Wahrnehmung und könnte auch in den Bereichen Virtual Reality und Medizin Anwendung finden“, beschreibt Christian Klaes, der Mitglied des Research Department of Neuroscience an der RUB ist „Sie könnte sogar dazu beitragen, das Verständnis von neurologischen Erkrankungen und Störungen zu vertiefen, die die Wahrnehmung des eigenen Körpers beeinflussen.“

Weiterführende Zusammenarbeit mit der Universität Sussex

Das Bochumer Team plant, ihre Forschung zur PTI und den zugrunde liegenden Prozessen weiterzuführen. Aus diesem Grund wurde eine Zusammenarbeit mit der Universität Sussex gestartet. „Es ist wichtig, zunächst zwischen den tatsächlichen Empfindungen von Phantom-Touch und anderen kognitiven Prozessen zu unterscheiden, die an der Schilderung solcher Empfindungen beteiligt sein können . Hier kommen beispielsweise Suggestionen oder auch experimentelle Umstände in Betracht“, so Artur Pilacinski. „Außerdem wollen wir die neuronalen Grundlagen der PTI besser verstehen und arbeiten hierfür mit weiteren Partnern in der Forschung zusammen.“

Die Forschung von Artur Pilacinski und Christian Klaes fand im Rahmen des Research Department of Neuroscience (RDN) statt. Mit dem RDN wird eine seit Jahren etablierte, herausragende Forschungsstärke der Ruhr-Universität Bochum im Bereich der systemischen neurowissenschaftlichen Forschung weiterentwickelt und gefestigt.

Fotos: Susanne Troll