Langsamkeit als Lern-PrinzipGrundlegende Arbeitsprinzipien des Gehirns gesucht

Forscher simulieren Navigationsszenarien

Seit einiger Zeit ist bekannt, dass beim Bewegen in bekannter Umgebung im Gehirn der Ratte spezielle Nervenzellen, die sogenannten Ortszellen oder place cells, aktiv sind. Jede Ortszelle ist nur in einem kleinen Bereich der Umgebung aktiv, ihrem sogenannten Ortsfeld. Sie sind die Grundlage für eine räumliche Repräsentation, welche die Umgebung im Gehirn abbildet und Navigation ermöglicht. Neuroinformatiker der Ruhr-Universität Bochum haben nun reale Versuche zu Ortsfeldern am Computer simuliert, um herauszufinden, welche grundlegenden Verarbeitungsmechanismen das Gehirn anwendet. Im Journal „Frontiers in Computational Neuroscience“ werden ihre Ergebnisse veröffentlicht und diese zeigen: Im Gehirn scheint die Langsamkeit als grundsätzliches Organisationsprinzip eine wichtige Rolle zu spielen.

Reale Versuche dienen als Simulationsgrundlage

Als Grundlage für die Simulation am Computer bedienen sich die Neurowissenschaftler Fabian Schönfeld und Prof. Dr. Laurenz Wiskott verschiedener realer Experimente. In diesen erkunden Ratten auf der Suche nach Nahrung zunächst unterschiedliche Umgebungen. Durch spezielle Verfahren werden dabei „Aktivitätskarten“ erstellt, die die Ortsfelder zeigen, die sich im Gehirn der Nager bilden. Anschließend wird beobachtet, wie sich diese Felder verändern, wenn die Umgebung manipuliert wird, zum Beispiel durch Entfernung oder Bewegung von markanten Anhaltspunkten oder durch Veränderung der Form.

Spezieller Algorithmus entdeckt die Langsamkeit

Um die Bedingungen der realen Experimente genau nachzuempfinden, nutzen die Wissenschaftler eine eigens entwickelte Open Source Software, die die verschiedenen Umgebungen genau nachbilden kann. In dieser detailgetreuen Computerwelt bewegt sich eine virtuelle Ratte, die die Umgebung erforscht. Das Programm zeichnet dabei ihre visuellen Eindrücke auf. In der anschließenden Verarbeitung dieser Daten durch einen speziell entwickelten Algorithmus, genannt Slow Feature Analysis (SFA), liegt das Geheimnis der Langsamkeit. Das Prinzip der Langsamkeit besagt, dass sich die bedeutsame Information innerhalb eines Datenflusses langsamer ändert als die unwichtige Information. Fabian Schönfeld beschreibt das Verfahren an einem Beispiel: „Man stelle sich einen Fernseher mit schlechtem Empfang vor. Das Rauschen über dem eigentlichen Fernsehbild ändert sich viel schneller, als der eigentliche Film. Es kann also vernachlässigt werden, ohne bedeutsame Informationen zu verlieren.“. Die mit dem Algorithmus verarbeiteten Daten werden anschließend genutzt, um, wie beim realen Experiment, Aktivitätskarten der Ortszellen zu erstellen.

Computersimulation kann Ergebnisse realer Versuche reproduzieren

Der Vergleich der Aktivitätskarten von realen Experimenten und Simulationen zeigt: die Ergebnisse decken sich. Das Prinzip der Langsamkeit scheint also eine entscheidende Grundlage für die Verarbeitung von visuellen Reizen zu sein. Sowohl bei den realen, als auch bei den virtuellen Nagern zeigen sich einige interessante Eigenschaften von Ortszellen. So dienen markante Punkte in der Umgebung als visuelle Anker. Werden die Punkte im Raum rotiert, rotiert auch das Ortsfeld. Entfernt man sie, sind nahegelegene Felder weniger aktiv. Zudem deuten die Ergebnisse darauf hin, dass mentale Karten nicht komplett verworfen werden, wenn sich die Form der Umgebung ändert. Das Gehirn orientiert sich an markanten Punkten und ist in der Lage, vorhandene Ortsfelder zu skalieren und zu adaptieren. „Dass sich so unterschiedliche Experimente und so vielschichtige Ergebnissen mit einem einzigen auf Langsamkeit basierenden Modell reproduzieren lassen, das war für uns doch sehr erstaunlich.“, so Schönfeld.

Langsamkeit wird im Sonderforschungsbereich weiter untersucht

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert die Arbeit von Schönfeld und Wiskott im Sonderforschungsbereich 874, der sich mit der Verarbeitung von Sinneseindrücken zu komplexem Gedächtnis beschäftigt. Ihr im Rahmen dieser Förderung erarbeitetes Modell zum Verhalten von Ortszellen gibt einen wichtigen Anhaltspunkt dafür, dass die Langsamkeit ein entscheidender Mechanismus der Reizverarbeitung im Gehirn von Säugetieren sein kann. Um diese Vermutung zu festigen, sollen nun, in Kooperation mit anderen Wissenschaftlern des SFB 874, weitere Versuche durchgeführt werden, die zum Beispiel die Orientierung in der Dunkelheit untersuchen.