Neuroinformatik:Entzauberte Kurven

Bochumer Forscherduo deckt Schwächen bei der Interpretation von ROC-Kurven auf – Reduzierte Aussagekraft des etablierten Untersuchungsinstruments durch hohe Komplexität der Prozesse im Wiedererkennungsgedächtnis

Woher kenne ich dieses Gesicht? Eine Frage, die sich bestimmt jeder schon einmal gestellt hat. Was bei der Suche nach der Antwort hilft, beschreiben Neurowissenschaftlerinnen und -wissenschaftler in der Gedächtnisforschung als Vertrautheit oder den sogenannten Abruf. Die Hypothese ist, dass sich beide Mechanismen maßgeblich in ihren neuronalen Prozessen unterscheiden. Ein Bochumer Forscherduo hat nun die gängige Messmethode dieser Prozesse genauer unter die Lupe genommen – die sogenannten Receiver Operating Characteristic Curves oder auch ROC-Kurven. Sie fanden heraus, dass die Beurteilung von Gedächtnisprozessen anhand von ROC-Kurven durchaus kritisch gesehen werden sollte, da die Kurven Prozesse teils nur unscharf voneinander abgrenzen. Die Ergebnisse ihrer Arbeit veröffentlichte das Duo Anfang Mai im renommierten Journal of Cognitive Neuroscience.

Etabliertes Instrument zur Beurteilung von Hirnverletzungen

„ROC-Kurven gelten derzeit als die wissenschaftliche Standardmethode, um neuronale Prozesse von Vertrautheit und Abruf darzustellen“, beschreibt Olya Hakobyan, Erstautorin der Studie. „Bei der Vertrautheit geht es in der konkret angesprochenen Situation zum Beispiel darum zu analysieren ‚Habe ich das Gesicht schon einmal gesehen oder nicht?‘. Beim Abruf soll beantwortet werden ‚Wo habe ich dieses Gesicht schon einmal gesehen?‘ und gegebenenfalls auch ‚Zu wem gehört es?‘“ „Die Kurven werden oft genutzt um Erkenntnisse über Gedächtnisprozesse zu gewinnen, zum Beispiel ob eine bestimmte Hirnverletzung die Vertrautheits- oder Abrufkomponente beeinträchtigt hat“, so Prof. Dr. Sen Cheng weiter. „In der Literatur sind wir aber auf viele abweichende Ergebnisse zum Wiedererkennungsgedächtnis gestoßen. Dies machte uns neugierig.“

Als Ursache der Unstimmigkeiten vermutete das Team der Bochumer Neuroinformatik das enorm komplexe Zusammenspiel zwischen verschiedenen Hirnregionen und Gedankenprozessen beim Wiedererkennungsgedächtnis. Hakobyan und Cheng leitete bei Ihrer Forschung die These, dass Gedächtnisprozesse zu komplex seien, um eindeutig aus einer ROC-Kurve abgelesen zu werden. In der Analyse würden häufig nur einzelne, definierte Prozesse in den Fokus gerückt, die dann zu verfälschten Ergebnissen führten.

Computermodell zur Reproduktion von Gedächtnisbeeinträchtigungen

Das vom Bochumer Forscherduo entwickelte computergestützte Modell zeigt explizit, wie die Leistung des Wiedererkennungsgedächtnisses durch das Zusammenspiel verschiedener Faktoren beeinflusst wird. „Obwohl unser Modell abstrakt ist, lässt es sich auf Hirnregionen übertragen, die an den entsprechenden Erinnerungsfunktionen beteiligt sind“, erklärt Hakobyan. „So können wir unterschiedliche Gedächtnisbeeinträchtigungen, die bei Patienten mit Frontal- und Hippocampusläsionen auftreten, am Computer reproduzieren und interpretieren.“

In seiner Untersuchung fand das Bochumer Duo heraus, dass ROC-Kurven – anders als bisher vermutet – keine klare Abgrenzung zwischen Vertrautheits- und Abrufprozessen ermöglichen. Dargestellt werde vielmehr ein Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren wie Gedächtnisstärke, Entscheidungsprozess und Reizausgestaltung.

Hohe Empfindlichkeit der ROC-Kurven gegenüber kleinen Veränderungen

„Uns hat überrascht, wie empfindlich die ROC-Kurven gegenüber kleinen Parameteränderungen im Modell sind“, so Cheng. „Das zeigt, dass man die Unterteilung verschiedener Gedächtnisprozesse anhand von ROC-Kurven sehr vorsichtig vornehmen sollte, und stellt in Frage inwieweit solch eine Unterscheidung reelle Gedächtnisprozesse abbildet.“