Funktionsmodell:Auf der Suche nach dem Erinnerungsspeicher

RUB Neurowissenschaftler präsentieren neues Modell zur Gedächtnisbildung im Hippocampus

Der Hippocampus spielt eine ganz besondere Rolle im Prozess der Gedächtnisbildung. Es beschäftigt Forscher bereits seit Jahrzehnten welche Regionen innerhalb des Hippocampus wie an diesem Vorgang beteiligt sind. Torsten Neher, Prof. Dr. Sen Cheng und Prof. Dr. Laurenz Wiskott, Neurowissenschaftler im interdisziplinären Sonderforschungsbereich 874 der RUB, haben diesen Prozess anhand einer Computersimulation nachempfunden. Die Ergebnisse stellen das bisher etablierte Modell der Gedächtnisformierung im Hippocampus in Frage. Ihre Arbeit wird nun in der aktuellen Ausgabe des Journals „PLOS Computational Biology“ veröffentlicht.

Einzigartige Anatomie des Hippocampus

Die wichtige Rolle des Hippocampus bei der Gedächtnisbildung ist bereits intensiv erforscht. Sind die Hippocampi beschädigt, wird die Archivierung von Inhalten in das Langzeitgedächtnis gestört, und wir können auf keine Erinnerungen zugreifen, die länger zurückliegen als ein paar Minuten. Die außergewöhnliche Anatomie dieser Hirnregion, von der sie auch ihren Namen hat (Hippocampus=Seepferdchen), unterstützt ihre Funktionsweise. Aufgrund ihrer physiologischen Eigenschaften werden verschiedene Regionen des Hippocampus unterschieden. Der Gyrus dentatus ist die Eingangsstation dieser Hirnregion, von hier aus strahlen Nervenzellen in die Cornu Ammonis Regionen CA3 und CA1 aus. Die CA3 Region zeichnet sich durch ihre große Anzahl an stark verzweigten Pyramidenzellen aus, die auch in die Region selbst projizieren. Hier soll der Speicher für Erinnerungen liegen.

Ein Funktionsmodell vollzieht den Weg der Erinnerung

Aus dieser anatomischen Struktur wurde in den vergangenen Jahren ein Funktionsmodell des Hippocampus entwickelt und anhand von Computersimulationen getestet. In diesem Modell werden Informationen vom entorhinalen Cortex im Gyrus dentatus so reduziert, dass daraus kleine unverwechselbare Erinnerungsstücke werden, man nennt das „pattern separation“. Diese Erinnerungsteile werden dann an die CA3 Region weitergeleitet und abgespeichert. Der CA3 Region wird eine auto-assoziative Funktion zugeschrieben, sie ist also in der Lage aus einer Kurznotiz die komplette Information abzuleiten („pattern completion“). Die CA1 Region ist anschließend dafür zuständig, die komplette Information zurück an den entorhinalen Cortex zu übermitteln, wo sie als Erinnerung abgerufen wird.

Hippocampus Regionen arbeiten anders zusammen, als bisher gedacht

Die Neurowissenschaftler um Torsten Neher haben nun anhand verschiedener Computersimulationen berechnet, dass dieses Modell grundsätzlich überdacht werden muss. Mit einem künstlichen neuronalen Netzwerk, das auf einem Ratten-Hippocampus basiert, haben sie getestet, wie das Netzwerk Informationen verarbeitet, wo sie abgespeichert werden und, wie sie als Erinnerung wieder abgerufen werden. Ihre Ergebnisse zeigen, dass die CA1 Region vermutlich stärker als bisher gedacht in das Komplettieren von Erinnerungsreizen eingebunden ist. Somit können auch ohne die stark in sich verzweigten Nervenzellen der CA3 Region Erinnerungen dekodiert werden. Zudem gibt es Erinnerungen, speziell solche, die uns die Orientierung in bekannter Umgebung ermöglichen, die nicht komprimiert werden. Vielmehr bilden sich in der CA3 Region dazu mentale Karten, die Entfernungen und Relationen abbilden. Eine auto-assoziative Arbeitsweise, die darauf ausgelegt ist, dass Informationen sich gerade nicht ähneln, wäre in diesem Fall sogar hinderlich für den Erinnerungsprozess. „Dass das System so viel effizienter ohne pattern completion in CA3 arbeitet, hat uns doch überrascht. Es stellt schließlich ein seit über 20 Jahren etabliertes Modell zur Diskussion.“ so Torsten Neher. Das Computermodell der Wissenschaftler deutet an, dass ein Großteil der Speicherung und Entschlüsselung von Informationen zwischen entorhinalem Cortex und CA1 passiert. Das wiederum eröffnet CA3 Kapazitäten für andere wichtige Aufgaben, die es nun zu erforschen gilt. So könnte diese Hippocampus-Region zum Beispiel in der Lage sein, Sequenzen von episodischen oder autobiographischen Erinnerungen abzubilden.